Da ich ein Kind war …

(Ralf Schleiff – Eröffnungsrede / Ausstellung SPERLGALERIE, 4. 2. 2005)

„Da ich ein Kind war, / Nicht wußte, wo aus noch ein, /Kehrt ich mein verirrtes Aug…“ in die Knopfschachtel meiner Mutter, einem schier unerschöpflichen Nibelungenhort der Phantasie. Unser schon zerschlissener Bademantel mit dem Seesternemuster war jener Umhang des Zauberers, der sich in eine Maus verwandelte, um vom gestiefelten Kater gefressen zu werden. Ich löffelte die Milchsuppe mit der Vorfreude, am Boden meines Tellers endlich das Rotkäppchen zu entdecken, begleitet vom Wolf, der mir verschwörerisch zublinkerte. Und es war – als ich letztens meine Lieblingstasse mit dem goldgelben aufmüpfigen Küken durch eine unkontrollierte wütende Bewegung auf dem Küchenfußboden zerscherbte – wenn nicht Mord, so doch wie fahrlässige Tötung eines Teils meiner selbst. Die Gegenstände haben eine Seele! Für mich genauso wie für Dagmar Misselhorn, die sich selbst eine bekennende Animistin nennt. Aber was haben wir aus den Dingen gemacht. Gebrauchgegenstände sind zu Verbrauchsgegenständen entseelt worden. Auf der Schnäppchenjagd wird uns zwar alles recht, wird uns aber auch alles billig. Die Dinge verlieren ihren Geist, weil sie sich nicht mehr an uns gewöhnen dürfen, denn entweder werfen wir sie übereilt weg, weil wir einer neuen Mode folgen, der neusten Technik hinterher jagen. Oder die Dinge sind so bewußt dürftig produziert , daß sie von selbst hastig ihren Geist aufgeben. Seit alters her gibt es für uns Menschen ein Mittel einen Geist, ein Geheimnis zu bewahren: das Tabu. Nach Freud kann man Tabu mit „heilige Scheu“ übersetzen. Er definiert Tabu als einen Schutz für bedeutsame Personen, aber auch Gegenstände gegen mögliche Schädigung. So hat sich Dagmar Misselhorn entschlossen, die Gegenstände zu scheuen, sie in ihren Bildern geschickt zu verheimlichen, weil sie hofft, aus dem Geheimnis erwachse uns wieder eine neue Beziehung zu den Gegenständen. Nichts weckt die Neugier mehr als ein Verbot, wie uns schon die uralte Geschichte mit dem Apfel kündet.

Misselhorns gegenstandslose Malerei ist also ein probater Reflex auf unser verkommendes Verhältnis zu den Gegenständen. Schon als sie Kunst studierte, belegte sie ganz bewußt den Kurs Bildhauerei, verbot sich, tabuisierte die Malerei als Studiengegenstand. Niemand sollte ihr da reinreden, niemand sollte ihr das Geheimnis der Malerei und damit diese Kunst verraten.

Vielleicht ist ja die malerische Brunst der Misselhorn das reinigende Feuer, aus dem die Gegenstände beseelt wieder emporsteigen. Diese Brunst lodert aber auch für eine – Männer geradezu beunruhigende – eherne Seelenstärke des Weibes. Folgen wir Goethes Farbentheorie, glüht hier uneingeschränkt Sinnlichkeit. Glaubt man den Psychologinnen in Frauenzeitschriften, dann sind sogenannte „rote“ Menschen Energiebündel, die durchaus auch herrisch und aggressiv werden können. Längerfristig harmonieren können sie nur mit einem sogenannten „blauen“ Menschen. Rot ist trotz aller Vorbehalte auch heute noch statistisch gesehen die Lieblingsfarbe der meisten Menschen. Rot, das ist vor allem die Farbe des alles vorantreibenden, ver- und zerstörenden, be- und verrauschenden Eros.

Die brachial auftürmenden roten Farbflächenkaskaden in den Bildern von Dagmar Misselhorn wollen trotz ihrer oft bedrängenden Strahlung den Raum nie herrisch dominieren. Der Betrachter bekommt so eine Chance, in das rote Meer der Malerin zu steigen, um sich in den Glutklüften der Bilder zu verlieren, denn ihre Malerei suggeriert meisterlich Räumlichkeit geheimnisvoller Tiefe. Hier wird er entdecken, Rot ist nicht gleich Rot. Es steht einmal für berückende Schönheit und dann wiederum für zersetzende Leidenschaft, für lodernde opferwillige Liebe und abgrundtiefe Höllenverdamnis, für blutvolle Lebendigkeit und zündelnde Provokation, für das hehre Gute und das verteufelt Ruchlose.

Rot, das ist auch die Geschichte einer mißbrauchten Farbe. Rot, das ist auch die Farbe usurpierter, schauernd zur Schau gestellter Macht, nicht nur der sogenannten Arbeitermacht. Was wären die Könige ohne ihren Purpur. Die Kardinäle der Inquisition zeigten sich in wunderschön gearbeiteten roten Kutten und auch die Nationalsozialisten wollten von der psychologischen Macht des Rot nicht lassen. Mir erscheinen die Bilder der Dagmar Misselhorn so auch wie ein langwieriger Versuch, dieser geschundenen Farbe die Unschuld wiederzugeben. Doch Vorsicht, der Betrachter der Bilder darf sich nie wirklich sicher sein, auf welchem Gefühlniveau er sich gerade befindet. Ein Geheimnis bleibt. Angeregt durch den hiesigen Galeristen geht die Misselhorn in letzter Zeit dazu über, ihre Bilder mit leuchtendem Blau zu vereisen. Doch trotz aller Kälte – die Ahnung der Glut überdauert.

Ein jedes Bildelement verstärkt den Ausdruck des anderen, schürt die Spannung und hebt sie doch gleichzeitig in einem beruhigenden Gleichklang auf. Wie bei jeder guten Malerei sind die Bilder von Dagmar Misselhorn ein virtuoses gekonntes Spiel mit dem Licht, getreu dem fast vergessenen, gnostischen Religionsbegründer Mani: „Das Licht hat fünf Glieder, die Sanftmut, das Wissen, den Verstand, die Einsicht und das Geheimnis.“

Aber seit wir uns selbst Licht ans Fahrrad machen können, hat nun einmal das Gespür für das Geheimnis auch in der Kunst merklich gelitten. Wir sollten uns deshalb im Schillerjahr des alten Goethe versichern:

Hörst Du reine Lieder singen,
Ohr ist eins mit deiner Brust;
Siehst Du Farben um dich klingen,
Wirst du deines Augs bewußt.
In das Innere zu dringen,
Gibt das Äußre Glück und Lust.