Die Geburt der Schönheit aus dem Geist des Kampfes
(Andreas Ullrich / April 2006 – imago Kunstverein Wedemark – Eröffnung)
Wittgensteins bekanntester Satz lautet dahin gehend, dass man über das, worüber man nicht reden könne, schweigen solle. Dieser Satz fällt mir stets ein, wenn ich über Kunst reden darf. Denn: könnte (oder gar müsste) Kunst erklärt werden, wäre sie wirklich und leibhaftig dessen bedürftig, dann wäre sie verfehlt.
Und nichts wäre verfehlter, als dies von Dagmar Misselhorns Bildern zu behaupten. Sie stehen in ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit dem Herzen und dem Hirn sperrangelweit offen.
Dennoch möchte ich, Wittgenstein spontan vergessend und Dagmars liebevolles Angebot des nur sinnlichen Schwelgens vorerst ablehnend, mich an einem Phänomen abarbeiten, das den Titel meines Textes abgibt: Die Geburt der Schönheit aus dem Geist des Kampfes.
Nun werden Sie mit Recht einwenden, dass die hier ausgestellten Arbeiten mitnichten die Wildheit eines Kampfes darstellen. Ruhig, sicher, mit subtiler Farbspannung aufgeladen, hängen sie an den Wänden, geradezu gelassen abwartend, was die Augen der Betrachter, unsere Augen, mit ihnen veranstalten werden. Doch diese Gelassenheit der Bilder hat die Künstlerin viel Anstrengung und viel Kraft gekostet – unsichtbar für uns, den Bildern nicht am Gesichte abzulesen. Sie hat das geleistet, was Adorno für die Entstehung gelungener Kunst reklamiert: das Verschwinden-Lassen der Male von Arbeit, Kampf und Konstruktion. Die Bilder künden vom diesem Ringen nicht indem sie es darstellen, sondern indem sie es hinter sich lassen, es überwinden im subkutanen, mikroskopischen und damit immer gefährdeten Gelingen.
Seit ich Dagmar kenne, kämpft sie mit Farben, streitet sich mit ihnen, freundet sich an, entfremdet sich, nimmt vorsichtig Neues auf und stösst, sich häutend, Altes ab – ein Prozess, den ich als nicht-Künstler zwar beobachten, aber nicht existenziell verstehen kann. Die recht lockeren Vorlieben des Laien für Grün oder Rot oder Gelb-Blau werden beim Malprozess der ernsthaften Künstlerin zu fast moralischen Entscheidungen. Was uns als blanke Willkür erscheinen mag, ist Ergebnis eines langen Arbeits- und Lebensprozesses.
Die ersten Arbeiten von Dagmar Misselhorn, die ich kennen gelernt habe, lebten von der Gelb-Blau-Spannung, wunderbare, prickelnde Antagonismen, sich verschränkend zwar im einzelnen Werk, doch stets in ihrer Harmonie gefährdet, immer kampfbereit und trennungswütig. Die Arbeiten waren durchbrochen, verknotet, mit Haken und Ösen ihre zentrifugale Kraft bändigend – die Adornosche Sublimationsleistung eher illustrierend, denn sie vollziehend, die Spannungen noch extern erzeugend, nicht immanent aushaltend
Der Schritt von diesen dichotomischen Konstruktionen zu den Bildern, die wir heute und hier sehen, ist gigantisch. Sie entschuldigen diesen Superlativ, er wirkt vielleicht unangemessen werbesprachlich, aber ich meine es, recht eigentlich, genau so: eine vollständige Verwandlung des auf der Leinwand ausgetragenen Kampfes in das spannungsreiche Unisono der Farbklänge – musikalisch gesagt: vom Theaterdonner der Symphonie zur eigensinnigen Kraft der Farbfuge.
Fuge Rot
Rot ist nicht nur Blut und Wärme, Herz und Innerei. Es ist auch Backstein, Fels und Blume. Nicht nur Gefühliges, sondern auch Geformtes, nicht nur Organisches sondern auch Gefügtes. Fast möchte ich sagen: Rot ist Leben und Rot ist Stein. Und Beides, das Verschwimmende und das Architektonische, ist gleichberechtigter Bestandteil, wird nicht als ‚gegenüber‘ sondern als ‚miteinander‘ gemalt. Diese integrative Kraft, gegen die allgegenwärtigen Dichotomien, die plakativen und scheinbaren Schwarz-Weiss-Alternativen aufgeklärter Coolness aufbegehrend und anmalend, setzt eigene Räume mit einer – sicher mehrwertigen – Logik des Erscheinenden. So nah es dem Auge liegen mag, die Farben – von weitem betrachtet – in Architektur aufzulösen, so fern rückt dieses gegenständliche Moment – von nah betrachtet – angesichts der strudelnden Autonomien der Farbklänge.
Fuge Grün
Blätterwald. Wiese. Feld. Schlicht: Natur. Unser Auge ist nicht so rational, wie wir es wohl gerne vermuten würden. Es ist atavistisch, vormodern, traditionell. So wie die Sprache sich in ihrer Differenziertheit dem anpasst, was notwendig ist um sich zu orientieren, so sieht auch das Auge so differenziert wie es muss, um den Überblick zu behalten. Das verblassende, zum Gelb neigende Grün der verdurstenden Pflanze; das mit Blau versetzte Grün der saftig glänzenden, den Sommerhimmel reflektierenden Kiefernadeln; das helle Gelbgrün, das die Reife des Weizens begleitet – all das ist Reflex unserer kollektiven Erfahrung, ist Reflex unserer lebenserhaltenden Aufmerksamkeit dem Natürlichen gegenüber. Allerdings bereits unnützes Wissen, denn Milch kommt bekanntlich aus dem Tetrapack, Brot aus dem Supermarkt und dem Wald geht es so, wie es im staatlichen Waldzustandsbericht statistisch aufgelistet ist. Wozu also noch sehen können, wie es um das lebenserhaltende Grün steht? Dennoch hat unser Auge seine Sensibilität für feinste Unterschiede noch nicht verloren – eine Erinnerung, die in den Bildern Dagmar Misselhorns nachdrücklich aktualisiert und wieder in die Wahrnehmung gerückt wird.
Das musikalische Bild der Fuge ist, ich muss es gestehen, natürlich ein wenig schief geraten. Musik entfaltet sich in der Zeit, ein Bild ist auf einmal, plötzlich, als Gesamtheit präsent. In dieser Plötzlichkeit des Erscheinens trotzdem eine Ordnung zu halten, die dem Einzelnen, gewissermassen dem ‚Thema‘, wie auch dem Ganzen, gewissermassen der ‚Harmonie‘ das jeweils Seine zukommen lässt, ist eine beachtliche Leistung künstlerischer Produktivkraft. Und noch beachtlicher ist die mir fast unbegreifliche Leistung, auf den Pinselstrich genau zu erkennen, wann ein Bild ‚fertig‘ ist. Das mag jetzt etwas naiv klingen, rührt aber an den ziemlich vollmundigen Begriff der „Vollendung“ und den des „Gelingens“. Eine Fuge hat es da einfacher: sie endet auf der Tonart, auf der sie begonnen hat und mit dem Thema, das ihren Beginn bestimmte. Wo aber endet ein Bild? Und welche Tonart hat es?
Lassen Sie Ihre Augen wandern. Diese Augenwanderwege – und es sind viele auf diesen Bildern und die verschiedensten dazu – haben einen je eigenen Anfang und sie haben ein je eigenes Ende. Und jeder Weg hat seine Tonart. Schrill, schön, schattenreich oder sonnig. Ein Kosmos in Rot und Grün.
Nachdem ich nun den Satz Wittgensteins, der den Einstieg bildete, für einige Minuten verdrängt und Sie ausserdem davon abgehalten habe, sich gebührlich um die Hauptpersonen dieses Vormittags zu kümmern – die Bilder an den Wänden nämlich – , möchte ich diesem apodiktischen Satz denn doch und letztendlich die Oberhand lassen. Und schweigen.