Gewissen braucht Licht
(Andreas Ullrich / 2003 – Städtische Galerie Lehrte – Eröffnung)
Jeder Redner ist dankbar, wenn die Ausstellung, über die er sich Gedanken machen soll, einen Titel hat. Kann er doch so, ohne sofort auf´s Glatteis des eigentlich unbegrifflich Visuellen zu geraten, eine haltbare Startbasis von Worten über Worte errichten.
Dagmar Misselhorn hat dieses beliebte Verfahren erfolgreich torpediert. Nicht, dass die Ausstellung keinen Namen hätte; sie hat einen, aber was für einen: „Gewissen braucht Licht“. Mag das Wort ‚Licht’ noch zu malerischen Assoziationen Anlass geben, so versagt die lyrische Umschreibung beim ‚Gewissen’. Gewissen ist eine moralische Kategorie, keine ästhetische. Also trete ich an dieser Stelle für´s Erste auf die Bremse und halte nur fest: analog zur gebräuchlichen Formulierung „Pflanzen brauchen Licht“ oder „Menschen brauchen Licht“ wird hier eine moralische Kategorie in´s organische, vegetative zurückbeordert. „Gewissen“ als gleiche Selbstverständ-lichkeit menschlichen Daseins wie „Atmen“, wie „Gehen“ oder eben: wie „Malen“. Wir werden darauf zurück kommen.
Die Ausstellung selbst ist, den Räumen folgend, ein Rundgang. Da es sich bei den ausgestellten Bildern und Objekten um Arbeiten aus den letzten zehn Jahren handelt, läge eine Abbildung der Chronologie im Verlaufe des Gehens nahe. Doch die Entscheidung ist anders gefallen. Jeder Raum hat sein eigenes Profil erhalten, jeder Durch- und Zurückblick ist einbezogen worden in die Gestaltung. Die Chronologie hat sich aufgelöst in spontane ästhetische Entscheidungen.
Vier Werkgruppen sind in dieser Ausstellung vertreten.
Materialbilder, vernetzt, mit Höckern, Zipfeln, Schnüren, Fetzen und Schnipseln beklebt, überzogen, hinterfüttert. Die Farben: blau und gelb. Die Malerei bleibt hier als eigenständige Kunst noch im Hintergrund. Räumlichkeit wird durch dreidimensionale Zutaten erzeugt, nicht aus Spannungsver-hältnissen der Farben untereinander. Diese Bilder sind – man gestatte mir das simple Wort: lustig. Aber keine Lustigkeit, die gaghaft von aussen aufgesetzt ist: sie entsteht im hochenergetischen Innenleben der Bilder, ihrem Farb- und Materialgewusel, ihrer kecken Disposition und der assoziativen Farbigkeit.
Dann die Überdruckungen. Edle Figuren, mythologisch, göttlich oder irdisch, symbolisch oder konkret. „Stille Einfalt, edle Grösse“ – und, ich muss es zugeben, eigentlich etwas langweilig. Diese Langeweile aber wird durch den Eingriff der Künstlerin auf´s schönste verscheucht: unedler Zierrat win-det sich über die Bilder, wieder sind es zerrupfte Netze, seltsame Schlingpflanzen, organische Reste, rückgratähnliche Konstrukte, despektierliche Linien, Kreuze und Punkte. Übermalungen haben immer etwas Respektloses. Aber weil eine Übermalung auf das zu Übermalende auch dringlichst angewiesen ist, sind sie auch eine kleine Rettung der längst vergessenen Handarbeiten einer fleissigen Handwerkergeneration.
Beide Werkgruppen sind längst abgeschlossen, sie sind die Vergangenheit. Die Gegenwart finden wir in den roten Bildern und in der Installation „Wunderland“.
In den roten Bildern nun erleben wir die Künstlerin als genuine Malerin. Nichts mehr kommt von aussen hinzu, keine Anleihen mehr aus der dinghaften Aussenwelt, aus dem Dreidimensionale, dem Kanon aus sich selbst heraus bedeutender Gegenstände. Leinwand, Farbe, das Auge. Mehr nicht. Ich erwähne dies besonders, da für mich das abstrakte Tafelbild immer noch und immer wieder die radikalste Form künstlerischen Arbeitens ist. Alles an Intentionen, an Gefühltem und Gedachtem, Geträumtem und Behauptetem, wie konkret es auch immer sei, wird in der räumlichen Verteilung von Farbwerten sublimiert – ein faszinierender Vorgang, eine Verschlüsselung von Bedeutungen, deren Schlüssel offenbar gemacht wird im Vollzug des Malens. Geheimnis und Schlüssel in einem – ein Rätsel, das sich selbst ausspricht und löst.
Erinnern wir uns hier an den Ausstellungstitel: Gewissen braucht Licht. Er ist genau die verblüffende Verkürzung dieses Gedankens: dass nämlich, wo Menschen im Hellen, im Öffentlichen handeln, ihre Beweggründe den Handlungen organisch einbeschrieben sind: als Kainsmal oder als Signum der Menschlichkeit. Es gibt kein Verbergen, weder im Leben noch in der Malerei. So gesehen erobert sich das abstrakte Bild, das ganz auf sich beharrt, mit sich selber eins ist, moralische Qualitäten.
Über die Farbe ‚Rot’ ist viel philosophiert worden; Dagmar Misselhorn hat viel gelesen und geforscht. Sie hat ihr Credo in dem Katalogtext kurz und beeindruckend festgehalten. Ich kann also nichts besseres tun, als den Ausschnitt, der mir das, was in diesen Bildern passiert, am besten beschreibt, hier vorzutragen:
„Wie nun umgehen mit einer Energie, die ihre grösste Kraft im Kern besitzt und sich der ihr vorgeschriebenen Richtung folgend im Raum verliert? Überlassen wir die Farbe der Farbe, so verflüchtigt sie sich und lehrt uns, den Moment zu schätzen.
Wenn wir nun aber die Intensität des Moments zu bewahren trachten, dann benötigt das Rot eine formende Hand, die nichts anderes tut, als seine auseinanderstrebenden Kräfte zu binden. Die Farbe ist wildes Tier, die Form Dompteur.“
Das ist schön gesagt und es ist kraftvoll. Wie die Bilder. In diesen ist die Spannung von farblichem Eigenleben und formender Eingrenzung sozusagen „mit den Augen zu greifen“. An diese Stelle passt der schon oft gehörte Satz: „Kommen Sie doch noch einmal wieder, wenn die Räume leer sind und ihr Zwiegespräch mit den Bildern unbelauscht und ungestört bleiben kann.“ Denn Bilder sind scheue Tiere – bei all ihrer Wildheit.
Die Installation „Wunderland“ ist ein doppeltes Unterfangen: sie ist ein Requiem auf einen verstorbenen Freund und sie ist eine eigenständige Raum- und Klanginstallation. Sie wird also von denjenigen, die Peter Aschenbrenner gekannt haben, sehr anders wahrgenommen werden, als von denjenigen, die sich nur auf´s Materiale verlassen müssen. So möchte ich mich auch darauf beschränken, auf die wundervollen Materialkästchen hinzuweisen: in äusserster Knappheit wird hier ein Bedeutungsuniversum generiert, das mit seinem symbolträchtigen Nippes Pfade und Ziele, Gelingen und Scheitern der menschlichen Existenz umgreift. Dreiklänge allenthalben: „Das Messer, die Uhr, der Joker“; „Die Tänzerin, das Herz, die Spielkarte“; „Die Schranke, der Schlüssel, der Würfel“. Das sind kleine Romane, Blues-Balladen oder opernhafte Dramen. Jeder wird sie mit seiner eigenen Geschichte füllen können, und die, die die Gegenstände kennen, werden sich erinnern.
Ein letzter Hinweis auf die Toncollage sei mir gestattet, da sie heute Abend kaum die Gelegenheit haben werden, sie ganz oder auch nur deutlich zu hören: sie ist ein langes, kräftiges sich-Erinnern, sie ist selbstbewusste Spurensuche und zugleich eine kleine Sammlung klingender Erinnerungs-Schnipsel: Schubert und Proust, Alice und Puccini, der Rap, die Eisenbahn – und immer wieder: das Voranschreiten, das Weiterbewegen, hoffend und unerbittlich, suchend und – was immer uns bestimmt sein mag – auch findend.